Dienstag, 16. Juli 2024
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Individualisierte Ernährung: Was ist heute schon möglich?

Detmold. (anm) Für Michael Gusko ist es nicht nur eine Modewelle: «Es ist ein Mega-Trend.» Und er riet allen Teilnehmern der 69. Tagung für Bäckerei-Technologie der Arbeitsgemeinschaft Getreideforschung (AGF) in Detmold, sich jetzt schon darauf einzustellen und das Unternehmen darauf neu auszurichten. Die Rede ist von personalisierter Ernährung.

An zahlreichen wissenschaftlichen Studien erläutert der Geschäftsführer der GoodMills Innovation GmbH, Hamburg, dass die Empfehlungen der Ernährungswissenschaft inzwischen an Glaubwürdigkeit eingebüßt hätten. Wechselnde Aussagen zu gesunder Ernährung hätten die Verbraucher verunsichert. Was gesund ist, scheine den Menschen längst nicht mehr so klar zu sein wie noch vor zwei Jahrzehnten – das betreffe besonders Getreide- und Milchprodukte sowie Eier. Aber auch die Kehrtwenden der Wissenschaftler in Bezug auf Fett und Cholesterin gehörten dazu.

Gusko zitiert die Ergebnissen einer Umfrage aus dem Jahr 2017, nach der 73 Prozent der Gesamtbevölkerung der Meinung sind, dass die allgemeinen Ernährungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) nicht für den Einzelnen ideal seien und allgemeine Empfehlungen nur für den Durchschnitt der Bevölkerung gelten aber im Einzelfall falsch und sogar schädlich sein könnten.

Dass dieses Misstrauen gegenüber einer «Einheitsernährung» berechtigt ist, davon ist auch Gusko überzeugt. Der Spezialist für Innovations-Management und Ingredient Marketing mit Schwerpunkt auf technologisch und gesundheitlich funktionale Rohstoffe weist als Beispiel auf Eskimo-Volksgruppen hin, die traditionell 99 Prozent ihrer Energie aus Fett gewinnen. «Und sie leben trotzdem», sagt er. Auch neuste Forschungen aus Medizin und Ernährungswissenschaft stützen seine Auffassung.

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Eine Schlüsselrolle kommt dabei dem Mikrobiom zu. Etwa 10.000 Arten von Mikroorganismen leben im und am Menschen in Darm, Haut, Nase, Mund, Rachen und Genitalbereich. Eine große Gruppe sind die Bakterien, aber auch Pilze, Viren und Parasiten gehören dazu. Ihre Zusammensetzung ist bei jedem Menschen einzigartig. Die Medizin weiß heute, dass das Mikrobiom den Stoffwechsel sowie Krankheiten beeinflusst und eine wesentliche Rolle für das Immunsystems spielt. Zwar sind die Mikrobiome sehr individuell zusammengesetzt, doch sie enthalten auch immer bestimmte grundlegende Hauptgruppen. Forscher haben herausgefunden, dass bei bestimmten Erkrankungen bestimmte Mikroorganismen im Mikrobiom vermindert oder vermehrt vorkommen.

Versuche haben gezeigt, dass das Mikrobiom aus dem Darm eine Rolle dabei spielt, ob jemand ein schlanker Typ ist oder zu Fettleibigkeit neigt. Wissenschaftler haben das Mikrobiom schlanker Mäuse in den Darm fettleibiger Mäuse übertragen. Das Ergebnis war, dass die dicken Mäuse im weiteren Verlauf abnahmen. Dabei zeigte sich, dass offensichtlich die Insulin-Empfindlichkeit vom Spender auf den Empfänger übergegangen war.

Die Insulin-Empfindlichkeit gibt an, wie stark die Körperzellen auf das Hormon Insulin ansprechen. Eine Hauptaufgabe des Insulins ist es, den Blutzuckerspiegel zu senken. Werden einfache Kohlenhydrate aufgenommen, so werden sie zu Glucose abgebaut, gelangen über den Darm ins Blut und der Blutzuckerspiegel steigt. Ein stabiler Blutzucker, der nach dem Essen weder stark ansteigt noch schnell abfällt, hat ein längeres Sättigungsgefühl zur Folge und ist deshalb zum Abnehmen wichtig.

Auch hier haben Studien gezeigt, dass es nicht bei jedem Menschen dieselben Lebensmittel sind, die den Blutzuckerspiegel stark ansteigen lassen. Weißmehl und Zucker gehören zwar nach wie vor beim Durchschnitt zu den Treibern. Aber es hat sich gezeigt, dass es auch Personen gibt, bei denen der Blutzuckerspiegel nach ihrem Verzehr gleich bleibt oder sogar sinkt. Andere Personen verzeichneten einen starken Anstieg nach dem Verzehr beispielsweise von Tomaten.

«Es zeigt sich also auch hier: Das wirkliche Leben ist nie Durchschnitt», sagt Gusko und beschreibt erste Schritte der Ernährungsindustrie, um dem Trend nach personalisierter Ernährung zu begegnen. Schon heute gibt es Anbieter, die anhand von Stuhlproben oder Bluttests herausfinden, mit welchen Blutzuckerwerten Verbraucher auf ein bestimmtes Produkt reagieren. Darüber hinaus gibt es Halsketten, die das Schluckverhalten analysieren und so erkennen können, wie viel ein Mensch gegessen und getrunken hat. Ein weiterer Versuch läuft gerade mit einem Chip, der an einen Zahn montiert wird. Sein Sensor erfasst die Ernährung und Gesundheit im Mund. Mit Nestle hat bereits ein globaler Lebensmittelkonzern ein Programm auf den Markt gebracht, das erste Schritte zu einer individualisierten Ernährung geht. Es ist in Japan angelaufen. Die Teilnehmer erhalten eine DNA- oder Blutuntersuchung und werden anschließend mit auf die Ergebnisse abgestimmte Tee-, Vitamin- oder Smoothie-Kapseln versorgt.

Für Gusko zeigen die wissenschaftlichen Erkenntnisse und die ersten Versuche der Ernährungsindustrie, dass an personalisierter Ernährung in Zukunft kein Unternehmen in der Lebensmittelbranche vorbeikommen wird. Dabei wird es nach seiner Meinung nicht nötig sein, Hunderte komplett individualisierter Produkte vorhalten zu müssen. «Wichtig ist, auf bestimmte Ernährungstypen zugeschnittene Alternativen zu haben.» Was nach Guskos Auffassung viel mehr nötig sein wird als bisher, ist ein branchenübergreifendes Zusammenarbeiten von Ernährungsmedizin, Healthcare-Technologie sowie Lebensmittelgewerbe und -handel (Fotos: pixabay.com).