Dienstag, 16. Juli 2024
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AGF-Tagung: Gemeinsam sind wir Starch

Detmold. (agf) Wegen der ungeheuren Vielfalt in ihrer Anwendung, ist Stärke (Englisch: Starch) nicht nur gewissermaßen das Plastik der Lebensmittelindustrie, sondern auch buchstäblich das biologisch abbaubare umweltfreundlichere Plastik von Morgen. Am Max Rubner-Institut in Detmold haben hochkarätige Stärkeexperten seit 1949 jedes Jahr ihren Treffpunkt. Am 09. und 10. April 2019 präsentierten etwa 130 Mitglieder der globalen Stärke-Community die Ergebnisse ihrer Forschung. Am Nachmittag des zweiten Tages schloss sich das «15. European Bioethanol and Bioconversion Technology Meeting» unmittelbar an.

Die Stärketagung der Arbeitsgemeinschaft Getreideforschung (AGF) war wohl noch nie internationaler als in diesem Jahr. Von über 20 Referenten kamen ganze zwei aus Deutschland. AGF-Präsident Dr. Götz Kröner begrüßte die Teilnehmer und eröffnete die Tagung mit einem Rückblick auf die nunmehr 70-jährige Tagungsgeschichte, verband dies mit einem Blick auf das stetige Wachstum der deutschen Stärkeproduktion in dieser Zeit und sprach deutlich aus, wie wichtig die Europäische Union für die Zukunft der Branche ist.

Gleich im Anschluss folgte ein aufrüttelnder Vortrag vom ehemaligen General-Electric CEO, Prof. Dr.-Ing. Stephan Reimelt, über «die digitale Transformation und die Auswirkungen in der Stärkeindustrie». Gleichzeitig vor Optimismus strotzend und vor dem «GAFA-Monopol» (Akronym für Google, Apple, Facebook, Amazon) warnend, das bei der Digitalisierung alle Geschäfte an sich zu reißen droht, verkündete er: «Die Digitalisierung wird die Lebensmittelindustrie fundamental ändern, da keine andere Industrie so viele Ineffizienzen aufweist». Geradezu atemlos ging es weiter: «Wir verlieren 50 Prozent der Lebensmittel auf dem Weg vom Acker in die Küche» und «der Markt gibt einem gar nicht mehr die Zeit drei Jahre lang eine Pilotanlage aufzubauen. Ich habe sechs Monate, um eine solche virtuell zu simulieren!» In der anschließenden lebendigen Diskussion legte er nach: «Die Lebensmittelindustrie ist defensiv, statt offensiv. Sie müssen Ihre Sensoren lieben! Amazon verändert die Art und Weise wie wir Lebensmittel produzieren, weil der Konsument Teil des Prozesses wird.»

Während Reimelts Vortrag noch reich an weiteren Zitaten über Veränderungen und Chancen in der Lebensmittelindustrie ganz allgemein war, folgte in den Vorträgen aller folgenden Referenten der trockene Ernst des Status Quo in der Stärkeforschung, der ganz im Zeichen von Optimierung und Materialinnovationen steht. Natürlich ist die Digitalisierung auch hier, zwischen genetischen Sequenzierungsdaten, Publikationsarbeit und digitaler Kommunikation und Vernetzung, längst Alltag, doch die Forschung «am lebendigen Stoff», die bei der Stärketagung im Mittelpunkt steht, lässt sich wohl nur sehr bedingt simulieren. Und dieser Forschung, so viel wurde in der Vielzahl der Vorträge deutlich, werden, aufgrund der zahlreichen Anwendungsgebiete für modifizierte Stärke, die Impulse so schnell nicht ausgehen. Ob Food oder Non-Food, ob als Porenformer in der Keramik oder als Bio-Plastik, das ein Wal, wenn er es einmal verschluckt, vielleicht auch verdauen könnte, ob zur Enkapsulierung von Wirkstoffen in der Medizin oder als Klebstoff. Die immer wieder überraschenden Anwendungsgebiete und Eigenschaften neuer Stärkemodifizierungen lässt die Freude am Forschen nicht versiegen, zumal die «Umweltfreundlichkeit» dieser nachwachsenden Rohstoffquelle, vor allem im Non-Food-Bereich, als Bonus winkt.

Doch bei aller Euphorie des Machbaren wird gerade bei der Nahrung immer wieder ein Dilemma erkennbar, das sich wie ein roter Faden durch die gesamte Lebensmittelforschung zieht: Der Widerspruch zwischen geschmacksverführender «Convenience» und den Gesundheitsversprechen. Nahrung soll gesund sein, und gesund sind vor allem frisches Gemüse, Obst, ungesättigte Fette und Vollkorngetreide in selbst zubereiteten, moderaten Mahlzeiten. Aber die Segnungen der Forschung führen allzu oft dazu, ungesunden Essgewohnheiten Vorschub zu leisten. Fertiggerichte, ballaststoffarmes Getreide und andere Leckereien werden mit hohem Werbeaufwand von der Nahrungsmittelindustrie angepriesen, die dann forschen lässt, wie man die Stärke von weißem Reis «langsamer verdaulich» machen kann, um Diabetes vorzubeugen. Leider schmeckt dieser Reis bisher «fürchterlich», wie Referent Dr. Robert G. Gilbert aus Brisbane (Australien) zugibt, der dazu an der chinesischen Yangzhou Universität forscht: «Sie können die tollste Stärke herstellen, doch wenn sie wie der Kaffee von heute Morgen schmeckt, dann werden sie sie nie verkaufen.»

Das «15. European Bioethanol and Bioconversion Technology Meeting» fiel dieses Jahr aufgrund einer Reihe kurzfristiger Absagen deutlich kürzer als üblich aus. Jeroen Hugenholtz (URBIOFIN, Niederlande) sprach «weniger über Ethanol, sondern über andere Produkte» wie Latex, Dünger und Bioplastik. Besonders in Spanien ist Mülltrennung weitgehend unbekannt, weshalb erforscht wird, inwieweit der ungetrennte Haushaltsmüll, mittels anaerober Gärung, zur Energiequelle und zur Quelle weiterer Produkte werden könnte. Doch die teure Technologie ist «noch in der Erprobung» und «die Extraktion eine Herausforderung».

Nelli Erizarov (BDBe, Deutschland) erörterte die Situation der Bio-Ethanol-Produktion in Deutschland. Im Gegensatz zum Biogas wird in Deutschland nur relativ wenig Bio-Ethanol produziert. Obwohl 90 Prozent der Autos in Deutschland mit E10 (10 Prozent Bioethanol-Anteil) fahren könnten, ist die Akzeptanz gering und die Produktion liegt zudem «unter Ziel».

Letzter Referent der Tagung war Timo Broeker. Er erklärte sein interdisziplinäres Forschungsvorhaben bioCO2nvert an der TH-OWL in Lemgo, das daraufhin arbeitet den Nachweis des wirtschaftlichen Betriebs einer biokatalytischen Power-to-(Methan)Gas Anlage zu erbringen. Hierzu kann durch Elektrolyse gewonnener Wasserstoff zusammen mit CO2, zum Beispiel aus der Bierindustrie, verwendet werden, um das weniger volatile, und somit besser zu lagernde, Methan zu gewinnen, für das mit dem deutschen Erdgasnetz bereits enorme Speichermöglichkeiten bereitstehen. Zudem ist Methan bereits heute ein weit verbreiteter Kraftstoff für Autos, und diese können, mit relativ geringem technischem Aufwand, von Benzin- auf Gasbetrieb umgestellt werden (Fotos: AGF).